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Historiographie: Die Historiographie ist die Lehre von der Geschichtsschreibung. Sie untersucht, wie Historiker historische Ereignisse und Entwicklungen interpretiert haben und wie sich ihre Interpretationen im Laufe der Zeit verändert haben. Die Geschichtsschreibung untersucht auch die verschiedenen Methoden und Theorien, die Historiker zur Erforschung der Vergangenheit verwenden. Siehe auch Geschichte, Historismus.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Hans-Georg Gadamer über Geschichtsschreibung – Lexikon der Argumente

I 10
Geschichtsschreibung/Wissenschaft/Gadamer: Was auch immer hier Wissenschaft bedeuten mag und wenn auch in aller historischen Erkenntnis die Anwendung allgemeiner Erfahrung auf den jeweiligen Forschungsgegenstand eingeschlossen ist - historische Erkenntnis erstrebt dennoch nicht, die konkrete Erscheinung als Fall einer allgemeinen Regel zu erfassen. Das Einzelne dient nicht einfach zur Bestätigung einer Gesetzmäßigkeit, von der aus in praktischer Umwendung Voraussagen möglich werden. Ihr Ideal ist vielmehr, die Erscheinung selber in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretion zu verstehen. Dabei mag noch so viel allgemeine Erfahrung wirksam werden: das Ziel ist nicht, diese allgemeinen Erfahrungen zu bestätigen und zu erweitern, um zur Erkenntnis eines Gesetzes zu gelangen, etwa wie Menschen, Völker, Staaten überhaupt sich entwickeln, sondern zu verstehen, wie dieser Mensch, dieses Volk, dieser Staat ist, was er geworden ist — allgemein gesagt: wie es kommen konnte, dass es so ist.
>Geisteswissenschaften/Gadamer
, >Geisteswissenschaften/Dilthey, >Geschichtsschreibung/Droysen.
I 340
Geschichtsschreibung/Gadamer: Der Historiker verhält sich zu überlieferten Texten insofern anders [als der Hermeneutiker], als er durch dieselben hindurch ein Stück Vergangenheit zu
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erkennen strebt. Er empfindet es geradezu als die Schwäche des Philologen, dass dieser seinen Text wie ein Kunstwerk ansieht. Ein Kunstwerk ist eine ganze Welt, die sich in sich selbst genügt. Aber das historische Interesse kennt solche Selbstgenügsamkeit nicht.
DiltheyVsSchleiermacher: So empfand schon Dilthey gegen Schleiermacher: »Ein sich selbst abgerundetes Dasein möchte die Philologie überall sehen«.(1)
Gadamer: Wenn eine überlieferte Dichtung auf den Historiker Eindruck macht, wird das für ihn gleichwohl keine hermeneutische Bedeutung haben. Er kann sich grundsätzlich nicht als den Adressaten des Textes verstehen und dem Anspruch eines Textes unterstellen. Er befragt seinen Text vielmehr auf etwas hin, was der Text von sich aus nicht hergeben will.
I 400
Geschichtsschreibung/Gadamer: (...) der Historiker wählt in der Regel die Begriffe, mit denen er die
historische Eigenart seiner Gegenstände beschreibt, ohne ausdrückliche Reflexion auf ihre Herkunft und ihre Berechtigung. Er folgt allein seinem Sachinteresse und gibt sich keine Rechenschaft davon, dass die deskriptive Eignung, die er in den von ihm gewählten Begriffen findet, für seine eigene
Absicht höchst verhängnisvoll sein kann, sofern sie das historisch Fremde dem Vertrauten angleicht und so selbst bei unbefangenster Auffassung das Anderssein des Gegenstandes schon den eigenen Vorgriffen unterworfen hat. Sofern der Historiker sich diese seine Naivität nicht eingesteht, verfehlt er unzweifelhaft das von der Sache geforderte Reflexionsniveau.
Seine Naivität wird aber wahrhaft abgründig, wenn er sich der Problematik derselben bewusst zu werden beginnt und etwa die Forderung stellt, man habe im historischen Verstehen die eigenen Begriffe beiseite zu lassen und nur in Begriffen der zu verstehenden Epoche zu denken. Diese Forderung, die wie eine konsequente Durchführung des historischen Bewusstseins klingt, enthüllt sich jedem denkenden Leser als eine naive Illusion.
Die Forderung, die Begriffe der Gegenwart beiseite zu lassen, meint nicht eine naive Versetzung in die Vergangenheit. Sie ist vielmehr eine wesensmäßig relative Forderung, die nur in Bezug auf die eigenen Begriffe überhaupt einen Sinn hat. Das historische Bewusstsein verkennt sich selbst, wenn es, um zu verstehen, das aus-
I 401
schließen möchte, was allein Verstehen möglich macht.
>Bedeutungswandel, >Begriffe/Gadamer.
Historisches Bewusstsein/Gadamer: Historisch denken heißt in Wahrheit, die Umsetzung vollziehen, die den Begriffen der Vergangenheit geschieht, wenn wir in ihnen zu denken suchen. Historisch denken enthält eben immer schon eine Vermittlung zwischen jenen Begriffen und dem
eigenen Denken. Die eigenen Begriffe bei der Auslegung vermeiden zu wollen, ist nicht nur unmöglich, sondern offenbarer Widersinn.


1. Clara Misch: Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870. Leipzig 1933; Stuttgart/Göttingen 1960, S. 94.

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.

Gadamer I
Hans-Georg Gadamer
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 7. durchgesehene Auflage Tübingen 1960/2010

Gadamer II
H. G. Gadamer
Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977

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