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Hermeneutischer Zirkel: Der hermeneutische Zirkel ist ein Interpretationsprozess, in dem das Ganze und seine Teile sich gegenseitig erhellen. Es handelt sich um einen rekursiven Prozess, bei dem der Ausleger zwischen dem gesamten Text und seinen einzelnen Teilen hin und her geht, um zu einem umfassenden Verständnis zu gelangen. Siehe auch Hermeneutik.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Martin Heidegger über Hermeneutischer Zirkel – Lexikon der Argumente

Gadamer I 270
Hermeneutischer Zirkel/Heidegger/Gadamer: Heidegger schreibt: »Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum, und sei es auch zu einem geduldeten, herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive
Gadamer I 271
Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.«(1)
Gadamer: Was Heidegger hier sagt, ist zunächst nicht eine Forderung an die Praxis des Verstehens, sondern beschreibt die Vollzugsform des verstehenden Auslegens selbst. Heideggers hermeneutische Reflexion hat ihre Spitze nicht so sehr darin, nachzuweisen, das hier ein Zirkel vorliegt, als vielmehr darin, dass dieser Zirkel einen ontologisch positiven Sinn hat.
Verstehen/Gadamer: Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen, er wirft sich
einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.
Heidegger/Gadamer: Dass jede Revision des Vorentwurfs in der Möglichkeit steht, einen neuen Entwurf von Sinn voraus zu werfen, dass sich rivalisierende Entwürfe zur Ausarbeitung
Gadamer I 272
nebeneinander herbringen können, bis sich die Einheit des Sinnes eindeutiger festlegt; dass die Auslegung mit Vorbegriffen einsetzt, die durch angemessenere Begriffe ersetzt werden: eben dieses ständige Neu-Entwerfen, das die Sinnbewegung des Verstehens und Auslegens ausmacht, ist der Vorgang, den Heidegger beschreibt.
Objektivität: Es gibt hier keine andere „Objektivität“ als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet.
Methode: Man muss sich diese grundsätzliche Forderung als die Radikalisierung
eines Verfahrens denken, das wir in Wahrheit immer ausüben, wenn wir verstehen.
Gadamer I 298
Hermeneutischer Zirkel/Heidegger/Gadamer: Schleiermacher (...) gelingt es (...) den Einklang mit dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaften herzustellen, aber nur dadurch, dass [er] darauf verzichte[t], die Konkretion des historischen Bewusstseins in der hermeneutischen Theorie zur Geltung zu bringen. >Hermeneutischer Zirkel/Schleiermacher
, >Hermeneutik/Schleiermacher.
HeideggerVsSchleiermacher/Gadamer: Heideggers Beschreibung und existenziale Begründung des hermeneutischen Zirkels bedeutet demgegenüber eine entscheidende Wendung.
[Schleiermachers Theorie gipfelte in der] Lehre von dem divinatorischen Akt, durch den man sich ganz in den Verfasser versetzt und von da aus alles Fremde und Befremdende des Textes
zur Auflösung bringt.
Heidegger: Demgegenüber beschreibt Heidegger den Zirkel so, dass das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Der Zirkel von Ganzem und Teil wird im vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht, sondern im Gegenteil am eigentlichsten vollzogen.
Ontologie/Methode: Der Zirkel ist also nicht formaler Natur. Er ist weder subjektiv noch objektiv, sondern beschreibt das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten. Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in beständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir schon immer stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selber weiter bestimmen. Der Zirkel
Gadamer I 299
Verstehens ist also überhaupt nicht ein „methodischer“ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens.
>Vollkommenheit/Gadamer.


1. Heidegger, Sein und Zeit, 312ff

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.

Hei III
Martin Heidegger
Sein und Zeit Tübingen 1993

Gadamer I
Hans-Georg Gadamer
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 7. durchgesehene Auflage Tübingen 1960/2010

Gadamer II
H. G. Gadamer
Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977

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