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Historisches Bewusstsein: Geschichtsbewusstsein ist das Bewusstsein für die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart und Zukunft. Es ist die Fähigkeit, die Welt, in der wir leben, durch die Linse der Geschichte zu verstehen. Siehe auch Geschichte, Geschichtsschreibung, Verstehen.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Wilhelm Dilthey über Historisches Bewusstsein – Lexikon der Argumente

Gadamer I 233
Historisches Bewusstsein/Dilthey/Gadamer: Gibt es auch für Dilthey einen absoluten Geist? (...) [also] eine völlige Selbstdurchsichtigkeit, völlige Tilgung aller Fremdheit (...)? Für Dilthey ist es keine Frage, dass es das gibt und dass es das geschichtliche Bewusstsein ist, das diesem Ideal entspricht, und nicht die spekulative Philosophie. Es sieht alle Erscheinungen der menschlich-geschichtlichen Welt nur als Gegenstände, an denen der Geist sich selbst tiefer erkennt. Sofern es sie als Objektivationen des Geistes versteht, übersetzt es sie zurück »in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen sind«(1). Die Gestaltungen des objektiven Geistes sind für das historische Bewusstsein also Gegenstände der Selbsterkenntnis dieses Geistes. Das historische Bewusstsein breitet sich ins Universelle aus, sofern es alle Gegebenheiten der Geschichte als Äußerung des Lebens versteht, dem sie entstammen; »Leben erfasst hier Leben«(2). Insofern wird die gesamte Überlieferung für das historische Bewusstsein zur Selbstbegegnung des menschlichen Geistes. Es
zieht damit an sich, was den besonderen Schöpfungen von Kunst, Religion und Philosophie vorbehalten schien. Nicht im spekulativen Wissen des Begriffs, sondern im historischen Bewusstsein vollendet sich das Wissen des Geistes von sich
Gadamer I 234
selbst. Es gewahrt in allem geschichtlichen Geist. Selbst die Philosophie gilt nur als Ausdruck des Lebens. Sofern sie sich dessen bewusst ist, gibt sie damit ihren alten Anspruch auf, Erkenntnis durch Begriffe zu sein. Sie wird Philosophie der Philosophie, eine philosophische Begründung dessen, dass es im Leben Philosophie - neben der Wissenschaft - gibt. Dilthey hat in seinen letzten Arbeiten eine solche Philosophie der Philosophie entworfen, in der er die Typen der Weltanschauung auf die Mehrseitigkeit des Lebens zurückführte, das sich in ihnen auslegt(3). Dilthey selbst hat darauf hingewiesen, dass wir nur geschichtlich erkennen, weil wir selber
geschichtlich sind. Das sollte eine erkenntnistheoretische Erleichterung sein.
Gadamer I 235
GadamerVsDilthey: Aber kann es das sein? Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig?
Überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von „Machen“ d. h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann? Wo soll hier die erkenntnistheoretische Erleichterung herkommen? Ist es nicht in Wahrheit eine Erschwerung? Muss nicht die geschichtliche Bedingtheit des Bewusstseins eine unüberwindliche Schranke dafür darstellen, dass es sich in geschichtlichem Wissen vollendet? Hegel/Gadamer: Hegel mochte durch die Aufhebung der Geschichte im absoluten Wissen diese Schranke überwunden meinen. Aber wenn das Leben die unerschöpflich-schöpferische Realität ist, als die es Dilthey denkt, muss dann nicht die beständige Wandlung des Bedeutungszusammenhanges der Geschichte ein Wissen, das Objektivität erreicht, ausschließen? Ist also das geschichtliche Bewusstsein am Ende ein utopisches Ideal und enthält einen Widerspruch in sich? >Verstehen/Dilthey
, >Bewusstsein/Dilthey.
Gadamer I 238
Was ist die Auszeichnung des historischen Bewusstseins (...) dass seine eigene Bedingtheit den
grundsätzlichen Anspruch objektiver Erkenntnis nicht aufheben soll?
Wissen/Absolutes Wissen: Seine Auszeichnung kann nicht darin bestehen, dass es wirklich im Sinne Hegels „absolutes Wissen« wäre, das heißt, in einem gegenwärtigen Selbstbewusstsein das Ganze des Gewordenseins des Geistes vereinigte.
Wahrheit: Der Anspruch des philosophischen Bewusstseins, die ganze Wahrheit der Geschichte des Geistes in sich zu enthalten, wird von der historischen Weltansicht ja gerade bestritten. Das ist vielmehr der Grund, weshalb es der geschichtlichen Erfahrung bedarf, dass das menschliche Bewusstsein kein unendlicher Intellekt ist, für den alles gleich-zeitig und gleich gegenwärtig ist. Absolute Identität von Bewusstsein und Gegenstand ist dem endlich-geschichtlichen Bewusstsein prinzipiell unerreichbar.
Gadamer I 239
Dilthey/Gadamer: [man kann seine Sicht so zusammenfassen]: Historisches Bewusstsein ist nicht
so sehr Selbstauslöschung ((s) wie bei Hegel) als ein gesteigerter Besitz seiner selbst, der es gegenüber allen anderen Gestalten des Geistes auszeichnet. Es legt nicht mehr die Maße seines eigenen Lebensverständnissses an die Überlieferung, in der es steht, einfach an und bildet so in
naiver Aneignung der Überlieferung die Tradition weiter. Es weiß sich vielmehr zu sich selbst und zu der Tradition, in der es steht, in einem reflektierten Verhältnis. Es versteht sich selber aus seiner Geschichte. Historisches Bewusstsein ist eine Weise der Selbsterkenntnis. >Leben/Dilthey.


1. Ges. Schr. Vll V, 265
2. Ges. Schr. Vll VII, 136
3. Ges. Schriften V, 339ff u. Vlll.

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.

Dilth I
W. Dilthey
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften Göttingen 1990

Gadamer I
Hans-Georg Gadamer
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 7. durchgesehene Auflage Tübingen 1960/2010

Gadamer II
H. G. Gadamer
Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977

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